Projekt

Musiktheater in Migration Übersetzungsprozesse im europäischen Musiktheater von 1781 bis heute

1780 schreibt Goethe an den Intendanten des Mannheimer Theaters: «Das letzte was ich gemacht habe ist eine kleine Operette, worin die Akteurs Schweizerkleider anhaben und von Käs und Milch sprechen werden.» Er kommt gerade von einer mehrmonatigen Reise durch die Schweiz zurück, während der er den Text Jery und Bätely geschrieben hat, der selber durch verschiedene Sprachregionen reisen wird. Jery und Bätely wird zum beliebtesten Singspiel Goethes und erfährt eine grosse Zahl an Bearbeitungen und Übersetzungen im europäischen Raum. Dabei bewegt sich der Stoff durch verschiedene Sprachen, Gattungen, Theaterkulturen und Epochen. Diese Bewegungen sind ein gutes Beispiel für die komplexen Übersetzungspraktiken, die das europäische Musiktheater prägen – Texte, Musik, Sprachen, Übersetzer und Komponisten interagieren miteinander, um zahlreiche Neu- und Selbstübersetzungen hervorzubringen.
Ein Forschungsprojekt untersucht nun auf der Grundlage dieses Beispiels die Übersetzungsprozesse im europäischen Musiktheater. Ziel ist es, Texte und Musik auf weitere sprachliche und musikalische Wanderungen zu schicken, um so alte Formen der Migration zu analysieren und neue zu erproben. So übertrugen drei Autoren auf Goethes Singspiel beruhende Operntexte ins Deutsche, Französische und Italienische und experimentierten mit verschiedenen Formen der Opernübersetzung – Texte zum Singen oder zum Lesen, Texte, die historische Distanz betonen, und solche, die Leserinnen und Leser in den fernen Zeitgeist einführen.

En 1780, Goethe écrit à l'intendant du Théâtre de Mannheim: «Das letzte was ich gemacht habe ist eine kleine Operette, worin die Akteurs Schweizerkleider anhaben und von Käs und Milch sprechen werden.» Il revient tout juste d'un voyage de plusieurs mois en Suisse, pendant lequel il a écrit le texte Jery und Bätely qui deviendra le Singspiel le plus populaire de Goethe. Il connaîtra bon nombre de transformations et de traductions tant en France qu'en Italie. Son sujet traverse les langues, les genres, les cultures théâtrales et les époques. Ces voyages sont un bon exemple des pratiques complexes de traduction qui marquent le théâtre musical européen – textes, musiques, langues, traducteurs, compositeurs s'entremêlent et finissent par se confondre autour de cette pièce qui génère de multiples retraductions et autotraductions.

Forschungsplakat

Bild: Stahlstich von E. Dertinger zu Goethes Singspiel Jery und Bätely (um 1880).

Librettoübersetzung – ein Beispiel

Im Rahmen des Projekts wurde das Libretto von Gaetano Donizettis opera buffa Betly neu übersetzt, mit ganz verschiedenen Herangehensweisen der beiden Übersetzer – hier ein Beispiel aus dieser Beschäftigung mit dem Sujet anhand des Beginns der Oper. Die Übersetzungen erschienen in Kombination mit einer historischen Einordnung im Band Schweizer Opern auf Reisen.
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Das «Original» – von Gaetano Donizetti nach der französischen Vorlage von Eugène Scribe, der dafür wiederum auf Johann Wolfgang von Goethe zurückgriff, übersetzt und bearbeitet.

Campagna. Da lontano si vedono le montagne d'Appenzell, alla destra capanna di Betly.
(Pastori portando ciascuno delle giuncate, burro ed altro.

Coro di Pastori
  Già l'aurora in cielo appar,
  Ed annunzia un dì seren;
  Non sia lungo l'indugiar;
  Al mercato andar convien.

  (entrando in scena)
  Ehi! Betly? Betly non v'è.
  Forse pria di noi partì.
  ...
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Version française – de Bernard Banoun (2010)

Campagne. On aperçoit au loin les montagnes d'Appenzell, coté cour le chalet de Betly.
Les bergers, chacun chargé de joncs, de beurre, etc.

Choeur
  Déjà l'aurore paraît,
  Depuis les coulisses.
  Annonçant un jour serein;
  Ne tardons pas trop, partons,
  Et rendons-nous au marché.
Une partie du choeur entrant
  Hé! Betly? ... Point de Betly.
  Serait-eel partie avant nous?
  ...
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Die deutsche Nachübersetzung – von Francesco Micieli

Auf dem Land. Von Weitem die Berge,
Appenzeller Berge, rechts die Hütte von Betly.
(Das Y von Betly, welche Bedeutung hat es?
Weist es auf die Unabhängigkeit hin?
Das Bild ist wie eine heutige Käse-Werbung.
Der Chor bös und düster.)
Hirten tragen Quark, Käse und mehr, danach erscheint Daniele.

Chor
  Am Himmel schon die Morgenröte erscheint
  Und kündigt von einem Tag so heiter.
  Lass uns nicht lange zögern,
  Auf den Markt sollten wir gehen.
  («Und kündigt einen Tag so heiter,
  auf den Markt sollten wir weiter.»
  Immer wieder diese Verführung, ähnlich
  leicht gereimt zu tönen, wie die Vorlage!)
Teil des Chores
  Ei, Betly? ... Betly ist nicht da.
  Vielleicht ist sie schon vor uns gegangen.
  (Betly: mit Betonung auf dem Y, ganz anders als der schweizerische Sound.
  «S Beetli isch nid da:
  Sie het scho früh müesse gah.»)
  ...

 

Quellen:
ital. aus: Gaetano Donizetti: Betly. A Melodrama in One Act, Klavierauszug hrsg. von John W. Large (International Music Company), New York 1983.
frz./dt. veröffentlicht in: Claudio Bacciagaluppi, Marie Caffari, Annette Kappeler (Hg.): Opéras suisses en voyage – De Bätely à Betly. Schweizer Opern auf Reisen – Von Bätely zu Betly. Lausanne 2010.