Deutschschweiz und Romandie im STV
Unterschiedliche Mentalitäten
Die unterschiedlichen Mentalitäten führt Blank auf die Nachbarländer und deren Traditionen zurück, die dann die Diskurse wesentlich mitgeprägt hätten: «Deutsch unterscheidet sich, offen gesagt, sprachlich sehr stark vom Französischen. Die Art und Weise, Sätze zu konzipieren und zu konstruieren, ist im Deutschen viel umfassender, globalisierender, führt sehr schnell zu sehr starken philosophischen Konzepten, und im Französischen vielleicht weniger, was nicht heisst, dass es nicht tiefgründig ist, aber es ist anders. Und was Italien betrifft, so ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die grossen italienischen Komponisten die wenigen schweizerisch-italienischen Komponisten, die in der Schweiz wichtig sind (das sind Francesco Hoch oder Nadir Vassena), geprägt haben, Menschen, die auch diese Kultur der Italianità haben.»
Unterschiedliche Ästhetiken
Wie weit zeigen sich dabei denn auch die unterschiedlichen Ästhetiken? Das vor allem in der Schlussphase des Vereins in verschiedenen Arbeitsgruppen aktive und entsprechend einflussreiche STV-Mitglied Alfred Zimmerlin äussert sich hierzu eher vorsichtig: «Es ist eine Vermutung. Ich denke… Aber du kannst mir jedes Mal ein Gegenbeispiel dazu nennen, aber so etwas wie die Neuen Horizonte gibt es in der Romandie nicht. Es gibt zwar Zelenka oder es gab ihn, er ist gestorben, die ähnlich dachten, aber die Extreme, Cage…, diese Einfachheit, diese Reduktion… Ich weiss nicht, Boulez ist viel stärker dort. Es ist also, einseitig gesagt… Das ist aber das alte Ding, also zwischen Debussy und Mahler…, ich weiss auch nicht, oder Schönberg.»
Der kulturelle Hintergrund spiegelte sich gemäss Roman Brotbeck ästhetisch ebenso wie weltanschaulich. Bezogen auf die Präsidenten, die die Geschicke des Vereins doch wesentlich mitprägten, spitzt er diese Polarisierung noch zu: «Das war immer so ein Pendeln in der Präsidentschaft zwischen enormem Aufbruch und abgesicherten bis konservativen Positionen. Vor Huber war, glaube ich, Julien-François Zbinden Präsident.» (Roman Brotbeck im Gespräch mit Thomas Gartmann, Zürich 1.7.2022)
Unterschiedliche Analysen
Wie stark spiegelt sich denn die ästhetische Präferenz auch in der musiktheoretischen Analyse? Als Komponist, Dirigent und Dozent sieht Blank da durchaus eine enge Verbindung:
«Oui. En fait, c’est, je trouve, en relation avec la musique elle-même. Par exemple, il y aura une tendance plus naturelle, pour la partie alémanique de la Suisse, d’aller vers une analyse des œuvres, déjà, qui sont écrites dans la partie germanique de l’Europe (ou en tout cas de culture… de culture germanique) avec, peut-être, une approche analytique qui est très méthodique, qui est… qui a aussi une… une histoire avec l’analyse, telle qu’on la pratique en Allemagne, et puis, du côté francophone – même s’il y a aussi des analyses très, très sévères ou très… presque académiques, je veux dire – mais il y a une approche qui est plus sensible, sur des œuvres, aussi, qui le sont (aussi plus sensibles). Donc, on est aussi dans des approches qui sont reliées aux œuvres et aux catégories que nous avons, en terme musical. Et il est vrai qu’on a souvent dit qu’il n’y avait plus de frontières dans la musique contemporaine entre les différents pays: ce n’est pas vrai. Je le sais comme chef d’orchestre, ce n’est pas du tout les mêmes écritures entre la musique spectrale et la musique post-Lachenmann. Donc c’est vraiment pas du tout la même chose. Et donc les approches… les approches analytiques et musicologiques sont donc fondamentalement différentes. De ce point de vue-là en tout cas.»
Dt. Übersetzung: «Ja, ich glaube, das hängt mit der Musik selbst zusammen. Zum Beispiel gibt es für den deutschsprachigen Teil der Schweiz eine natürlichere Tendenz, sich auf eine Analyse der Werke zuzubewegen, die im deutschsprachigen Teil Europas geschrieben wurden (oder zumindest der Kultur... der germanischen Kultur), vielleicht mit einem analytischen Ansatz, der sehr methodisch ist, der auch eine Geschichte mit der Analyse hat, wie sie in Deutschland praktiziert wird, und dann auf der französischsprachigen Seite – obwohl es auch sehr, sehr strenge oder sehr... fast akademische Analysen gibt, möchte ich sagen –, aber es gibt einen Ansatz, der sensibler ist, auch bei Werken, die es sind (auch sensibler). Es gibt also auch Ansätze, die mit den Werken und den Kategorien, die wir in musikalischer Hinsicht haben, verbunden sind. Und es stimmt, dass oft gesagt wurde, dass es in der zeitgenössischen Musik keine Grenzen mehr zwischen den verschiedenen Ländern gibt: Das stimmt so nicht. Ich weiss es als Dirigent, es sind überhaupt nicht die gleichen Handschriften zwischen der Spektralmusik und der Musik nach Lachenmann. Es ist also wirklich nicht das Gleiche. Und daher sind die Ansätze..., die analytischen und musikwissenschaftlichen Ansätze grundlegend verschieden. Zumindest in dieser Hinsicht.» (William Blank im Gespräch mit Thomas Gartmann, Bern, 21.6.2022)
Einfluss der Nachbarländer
Fast alle befragten Zeitzeugen betonen den Einfluss der Nachbarländer auf die kulturellen Unterschiede – bis hin zu den verschiedensten Ausdrucksweisen der Musik, wie Zimmerlin anmerkt: «Eine Zeit lang hat man das gemerkt bei der improvisierten Musik, dass sie sehr viel mehr auf dieses Spielerische, Französische, vor allem virtuos Spielerische, hat das eine starke Rolle gespielt in der Romandie. Auch beim Komponieren merkst du, die Komponisten, sie wollen virtuos sein... Es gibt immer schnelle Bewegungen immer ein Flimmern, also klar auch Impressionismus. Das haben die Deutschen viel weniger, und die Deutschschweizer hat dies eigentlich auch viel weniger interessiert. Vielleicht in einem anderen Sinn, also eine Virtuosität im Umgang. Mit den Mitteln und mit der Kreativität. Also, dass man bei den Interpretierenden eine musikalische Virtuosität mobilisiert und weniger jetzt eine fingertechnische. Also, dass ... Eine Forschungsvirtuosität vielleicht. Ja, das ... Das interessiert mich. Aber nicht die technische Virtuosität..» (Alfred Zimmerlin im Gespräch mit Raphaël Sudan, Uster, 13.1.2023)
Stärker als der Topos der Virtuosität, der etwa bei Komponisten wie Jarrell, Dayer, (dem Tessiner) Vassena und deren Schüler:innen zu beobachten ist, sind weitere Etiketten, die man der Suisse romande gerne anklebt: die Eleganz, die sich eben nicht nur auf die Kleidung bezieht, vor allem aber das Interesse am Klang und der damit zusammenhängenden Harmonik. William Blank begründet dies ausführlich aus musikhistorischer wie theoretischer Sicht:
«Alors comment…comment elles se dessinent, ces esthétiques ? Je dirais que l’esthétique, peut-être (et ce n’est pas une caricature que je donne) mais: l’esthétique alémanique est très influencée, évidemment par la musique, alors par différents courants, mais il y a des personnalités qui… qui impriment vraiment quelque chose. Helmut Lachenmann, c’est quelqu’un qui… qui compte énormément pour les compositeurs allemands mais pour les compositeurs suisses alémaniques aussi. Et il y a toute, toute une série de compositeurs suisses alémaniques qui sont dans une esthétique un peu post-Lachenmann (c’est-à-dire… qui n'ont plus de frontière entre le son et le bruit) donc: cette idée que le bruit devient matière sonore pour le travail (exactement comme on travaille le son) et on articule, en fait, le bruit, exactement comme on articulerait les hauteurs. Donc, ça c’est (par exemple) quelque chose qui est typique (assez typique, disons) de la musique allemande.»
Dt. Übersetzung: «Also, wie zeichnen sie sich aus, diese Ästhetiken? Ich würde sagen, dass die Ästhetik vielleicht (und karikiere nicht), aber: die deutschsprachige Ästhetik ist sehr stark beeinflusst, natürlich von der [deutschen] Musik, also von verschiedenen Strömungen, aber es gibt Persönlichkeiten, die... die wirklich etwas prägen. Helmut Lachenmann, das ist jemand, der für die deutschen Komponisten, aber auch für die deutschsprachigen Schweizer Komponisten sehr viel bedeutet. Und es gibt eine ganze Reihe von Deutschschweizer Komponisten, die eine post-Lachenmann-Ästhetik haben (d. h. die keine Grenze mehr zwischen Ton und Geräusch haben), also: diese Idee, dass das Geräusch zum Klangmaterial für die Arbeit wird (genau wie man den Ton bearbeitet) und man artikuliert eigentlich das Geräusch, genau wie man die Tonhöhen artikulieren würde. Das ist also (zum Beispiel) etwas, das typisch (ziemlich typisch, sagen wir) für die deutsche Musik ist.» (William Blank im Gespräch mit Thomas Gartmann, Bern, 21.6.2022)
Auch wenn jede Zuspitzung zwangsläufig eine Vereinfachung ist – vor allem, wenn man sie an einzelnen Vorbildern aufzuhängen versucht, die ja auch dank ihrer künstlerischen Potenz über ein mehrdimensionales Werk verfügen –, so fällt doch auf, dass sich diese Einschätzungen frappierend decken etwa mit jenen von Daniel Fueter (Vizepräsident 1990, Präsident 1991–1993), der selbst kulturell wie ästhetisch ganz anderen Einflüssen verpflichtet ist und von sich selber sagt, er hätte sich immer als «Gebrauchsmusiker» verstanden: «Ja… Also ich sag’s jetzt – Du als Musikwissenschaftler wirst jetzt nur schmunzeln – auf eine ganz plakative Art: Während ich glaube, dass der ästhetische Diskurs in der deutschen Schweiz von Schönberg her geprägt war, von der Revolution der Musik durch Schönberg, hat natürlich die Revolution der Musik durch Debussy das französische Musikverständnis auf eine ganz andere Art und Weise geprägt. Und das hat sich in der Schweiz, weil wir ja immer den Echoraum des jeweiligen sprachlichen Umfeldes mit bedienen, hat sich in der Schweiz auch ganz klar ausgedrückt. Also die Sonorität, die Eleganz der Formulierungen, ja dann bis zu den Spektralmusikern, das ist eine ganz typisch welsche Tradition, um Mozart zu zitieren, währenddem die Problematik oder die profunde Beschäftigung mit der Konstruktion, mit der Polyphonie etc. doch eher auch noch in dieser Generation der Komponisten, der Zeit und der etwas Älteren – ich denke an die ganze Basler Schule, ich denke an Hans Ulrich Lehmann etc. – da war die Deutschschweiz sehr, sehr präsent. Ich glaube nicht, dass sich Eric Gaudibert sehr mit Adorno beschäftigt hat. Und umgekehrt haben wir uns Deutschschweizer mit ganz vieler theoretischer Auseinandersetzung, die französische Musik anging, nicht beschäftigt. Aber im gegenseitigen Austausch haben wir viel voneinander gelernt.» (Daniel Fueter im Gespräch mit Thomas Gartmann, Zürich, 18.5.2022)
«Ich hab’ jetzt nicht gefunden, dass ein ästhetischer Krieg ausgebrochen ist zwischen deutschschweizer Ästhetik oder französischschweizer Ästhetik. Da war auch die Durchmischung und die Membrane ist eigentlich sehr durchlässig zwischen den Stilen, also es gibt gar keinen französisch-schweizerischen Stil, also natürlich ist der von Frankreich mehr beeinflusst als… das kann man heute eigentlich aber nicht mehr sagen, es gibt heute sehr viele deutschschweizer Komponisten, die sehr französisch inspiriert sind. Ja, politisch war es aber schon sehr wichtig, dass er die Landesteile verband, der STV, das war schon enorm wichtig.» (Matthias Arter im Gespräch mit Thomas Gartmann, online, 8.3.2022)
Trotzdem wird immer wieder der Röstigraben erwähnt, der symbolisch unterschiedliche Essenvorlieben anspricht, aber grundsätzliche kulturelle Unterschiede meint. So stellte Gasser fest: «Man weiss das ja in der Schweiz, dass zwei, mindestens zwei vollkommen verschiedene Welten…, der Röstigraben resp. die Rösti mur. Die ist unendlich gross.» (Ulrich Gasser im Gespräch mit Thomas Gartmann, Kreuzlingen, 30.6.2022)