Komponistenpreise – Kommentare

Kommentar zu Wildberger
In der Laudatio für Jacques Wildberger wird Tradition indirekt als «geschmäcklerisch[e]» Nostalgie verunglimpft, gleichzeitig aber auch die Avantgarde kritisiert. Der Mittelweg, den auch Jurypräsident Paul Sacher favorisierte (vgl. Friedrich Geiger: Musik und Macht, in: Paul Sacher - Facetten einer Musikerpersönlichkeit, hg. von Ulrich Mosch, Mainz: Schott 2006, S. 127–160, hier S. 129–134), wird geschickt als Wildbergers Weg bezeichnet. Sacher neutralisierte in einer ersten Reaktion nur das Nachrennen durch ein Nachstreben, ausserdem wollte er, der ein sehr schwieriges Verhältnis zu Wildberger zeigte (Michael Kunkel, Das linke Ohr. Der Komponist Jacques Wildberger, Büdingen: Pfau 2021, S. 259, 261), diesem die Pioniertat des Schweizer Seriellen nicht gönnen: «Ferner bin ich nicht sicher, ob es stimmt, dass Wildberger die serielle Technik erstmals in der Schweiz bekannt gemacht. Darum würde ich das Wort erstmals weglassen. Mit diesen beiden Ausnahmen habe ich keine weiteren Bemerkungen zum Text.» (Sacher an Dominique Creux, den neuen Generalsekretär, 17.2.1981, in: ASM-J-12-2). Der Dirigent Räto Tschupp als weiteres Jurymitglied verstärkte Wildbergers Verdienst indessen, als er die zweite Aussage nun zu Recht auf den Komponisten münzte: «es muss klarer herauskommen, dass er das mittels seiner eigenen Komposition getan hat, denn mit dem Phänomen bekannt gemacht hat Erich Schmid als Schönberg-Schüler natürlich vor Wildberger.» (Tschupp an Creux, 5.3.1981, in: ASM-J-12-2). Nun wurde aber Sacher hellhörig und reagierte auf die nur geringfügig angepasste zweite Version: «Beim zweiten Durchlesen stört mich im 2. Absatz, 3. Zeile: ‹als entartet verdammten›. Da der Nationalsozialismus in der Schweiz glücklicherweise nie an die Macht gekommen ist, sollten wir ihn hier auch nicht zitieren. Darum bitte ich Sie, diese drei Worte zu streichen. Auch der Anfang des 3. Absatzes gefällt mir bei der zweiten Durchsicht nicht sonderlich. Ich glaube, es gibt noch sehr zahlreiche Komponisten, die über die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft nachdenken! Deshalb würde ich lieber sagen: ‹Jacques Wildberger gehört zu den Komponisten, die…›» (Sacher an Creux, 18.3.1981, in: ASM-J-12-2). Mutmasslich hat Wyttenbach hier einen alten Trick der Subversiven verwendet: Man bringe so viel tabuisiertes Gedankengut vor, dass der Zensur dann nur das Offensichtliche zum Opfer fällt – so kriege man den Rest durch. 

 

Kommentar zu Holliger 
Dass dieses «subjektive Pathos» mit Holliger assoziiert wird, liegt vordergründig nicht gerade auf der Hand. Bei Sacher kam der expressive Sprachduktus des Laudators Clytus Gottwald schlecht an, da er eine gewisse trockene und besser verständliche Sachlichkeit bevorzugte. An die STV-Geschäftsführerin Hélène Petitpierre schrieb er deshalb verärgert, wie er die übersteigerte Ausdrucksweise vereinfachen möchte.  

 

Kommentar zu Nicolet 
An einer Sitzung in Basel – der hochbetagte Sacher mag nicht mehr nach Bern reisen – werden Namen diskutiert, Rolf Liebermann und Peter Mieg, die man gleich wieder eliminiert, sowie Armin Schibler und Julien-François Zbinden: «après discussion décide d’éliminer Rolf Liebermann et Peter Mieg. Pour ce qui est d’Armin Schibler et de Julien-François Zbinden, M. Sacher pense que l’un et l’autre devraient recevoir le Prix en 1987, avant d’envisager de récompenser de plus jeunes compositeurs» (Protokoll der Stiftungsratssitzung vom 2.2.1986, S. 1, in: ASM-J-12-2) Aurèle Nicolet opponiert aber radikal und verlangt, dass man niemanden auszeichne – oder Lehmann: «Les noms de Julien-François Zbinden et Armin Schibler reviennent sur le tapis. N. s’oppose à cette proposition. Il préfère une année sans prix ou alors Hans Ulrich Lehmann» (Protokoll der Stiftungsratssitzung vom 18.12.1986, S. 1, in: ASM-J-12-4)

Der Entscheid wird vertagt. Sacher spürt wohl, wie sein Einfluss schwindet. Nach früher erfolgreicher Manier versucht er es auf schriftlichem Weg – und bemüht politische Argumente, weil er merkt, dass inhaltliche hier nicht verfangen. Dabei geht er auch einen Kompromiss ein, lässt den inzwischen verstorbenen Schibler zugunsten von Lehmann fallen. Dies zeigt, dass es ihm nur vordergründig um den angerufenen Sprachfrieden geht, sondern vielmehr um den Ausgleich verschiedener kompositorischer Positionen: «Meine Herren, Sie wissen, dass sich in der französischen Schweiz ein Malaise ausbreitet. Genf ist unzufrieden über seine Lage in der Eidgenossenschaft. Der Kanton Jura will den bernischen Teil annektieren. Die zunehmende Unzufriedenheit ist mir auch aus persönlichen Kontakten mit welschen Freunden bewusst geworden. Solche Zustände kann nicht allein der Bundesrat, resp. können nicht allein die politischen Behörden in Ordnung bringen. Unser Verhalten als Bürger spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle. Kleine Gesten in intellektuellen und künstlerischen Kreisen werden besonders beachtet. Aus den angedeuteten Gründen möchte ich auf unsere Entscheidung zurückkommen und Ihnen dringend empfehlen, unseren Preis dieses Jahr den Herren Lehmann und Zbinden zuzusprechen. Ich möchte damit den Versuch unternehmen, etwas zur Verbesserung zwischen der welschen und deutschen Schweiz beizutragen. Es scheint mir in besonderer Weise auch deswegen angezeigt, weil wir augenblicklich offensichtlich einen schwachen Vorstand haben. Ich erwarte Ihre Antwort und hoffe auf Ihre Weisheit.» (Sacher an Nicolet und Tschupp, 16.1.1987, in: ASM-J-12-2) 

Um zu unterstreichen, für wie wichtig und grundsätzlich er diese Frage hält, schickt Nicolet von seiner Norwegen-Tournée aus einen ausführlichen Brief. Dabei spielt er geschickt mit seinen rhetorischen Fähigkeiten und seiner charmanten Empathie. Geschickt übernimmt Nicolet die Argumentation und die Werte Paul Sachers und tauscht lediglich den einen Namen aus: 

«Mon cher Paul, tout d’abord, j’aimerais te souhaiter, à toi et le tiens une bonne année 1987, sante et harmonieuse. […] J’avais pendant le voyage le temps de réfléchir et je te fais part de mes cogitations entre Bâle et Bergen. […] Bien sûr, comme chacun, je ressens le malaise musical helvétique. Il me semble, qu’il n’est pas limité au dialogue (ou non-dialogue) des Romand [sic] et des Suisse-Allemands, des Jurassiens séparatistes ou non, il est géneral [sic] (cf[.] Bâle!) et à tous les niveaux, religieux, militaire, social, industriel, politique, culturel. Ce malaise n’est pas non plus le ‹privilège› exclusive de la Suisse, mais nécessairement, il se ressent plus profondément dans un pays qui ne veut ni ne peut se remettre en question & cramponne aux seules valeurs du passé. Lui garantissant le bien-être matériel mais l’isolant de plus-en-plus spirituellement et culturellement du reste de [l’] Europe et du monde. Pour en revenir au problème que tu soulèves, je doute fort, que l’attribution du Prix de l’AMS à J. F. Zbinden, ne décrispe en quoi que ce soit la situation de la musique helvétique en général. Et de l’AMS en particulier. C’est vouloir ménager la chèvre et le chou, attitude-réflexe – appris – acquis dans notre bon vieux pays. S’il est juste de choisir un romand, je donnerai ma voix à E. Gaudibert et serai partisan 100 ‰ [sic] (si He. Petitpierre trouve les fonds nécessaires) d’attribuer 2 Prix à Lehmann et Gaudibert. En tant que Suisse-romand d’origine, je serai le dernier à vouloir empêcher un romand de recevoir un Prix AMS, mais un doublet Lehmann-Zbinden me paraît documenter notre désarroi, tandis que le choix du tandem Lehmann Gaudibert exprime un goût, un attachement aux valeurs musicales, que nous voulons défendre et promouvoir.»

Dt. Übersetzung: «Mein lieber Paul, zunächst möchte ich dir und deinen Lieben ein gutes, gesundes und harmonisches Jahr 1987 wünschen. […] Während der Reise hatte ich Zeit zum Nachdenken und ich schreibe dir, was ich mir zwischen Basel und Bergen überlegt habe. […] Natürlich, wie jeder andere auch, spüre ich das musikalische Malaise in der Schweiz. 
Es scheint mir, dass es nicht auf den Dialog (oder Nicht-Dialog) der Romands und der Deutschschweizer, der Jurassier – Separatisten oder nicht – beschränkt ist, sondern generell (vgl. Basel!) und auf allen Ebenen, religiös, militärisch, sozial, industriell, politisch und kulturell, besteht. Dieses Unbehagen ist auch nicht das exklusive ‹Privileg› der Schweiz, aber notwendigerweise ist es tiefer in einem Land zu spüren, das weder willens noch in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen und sich nur an die Werte der Vergangenheit klammert. Das garantiert ihm materiellen Wohlstand, isoliert es aber geistig und kulturell immer mehr vom Rest Europas und der Welt. 
Um auf das von dir angesprochene Problem zurückzukommen, bezweifle ich stark, dass die Verleihung des STV-Preises an J. F. Zbinden die Situation der Schweizer Musik im Allgemeinen und die des STV im Besonderen in irgendeiner Weise entspannt. Will man sowohl die Ziege wie den Kohlkopf aufstellen? Das ist eine reflexartige Haltung, die in unserem ‹guten alten› Land erlernt und erworben wurde. 
Wenn es richtig ist, einen Romand zu wählen, werde ich meine Stimme E. Gaudibert geben. Und ich wäre zu 100% [irrtümlich schreibt er Promille] dafür (wenn He. Petitpierre die nötigen Mittel findet), zwei Preise an Lehmann und Gaudibert zu vergeben. Als gebürtiger Westschweizer wäre ich der Letzte, der einen Westschweizer daran hindern würde, einen STV-Preis zu erhalten, aber ein Ticket Lehmann-Zbinden scheint mir nur unsere Verwirrung zu dokumentieren, während die Wahl des Tandems Lehmann Gaudibert einen Geschmack und eine Verbundenheit mit musikalischen Werten ausdrückt, die wir verteidigen und fördern wollen.» (Nicolet an Sacher, 20.1.1987, ASM-J-12-2)