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Entschlackte Romantik? Die Sinfonien von Robert Schumann in den Interpretationen historisch informierter Aufführungspraxis

In den 1980er-Jahren sorgten Dirigenten wie Christopher Hogwood oder Roger Norrington, später John Eliot Gardiner und Roy Goodman für eine Revolution im Musikleben, als sie sich den Sinfonien Beethovens auf historischen Instrumenten näherten und dem tradierten Klangbild eine wesentlich kernigere und lichtere Klanggestaltung entgegenstellten. In den folgenden Jahren wurde der Zugang historisch informierter Aufführungspraxis auf Orchesterwerke des 19. Jahrhunderts ausgedehnt. Sukzessive rückten auch Berlioz, Mendelssohn, Schumann und Brahms ins Blickfeld der Vertreter historisch informierten Musizierens. Oft aber geriet das klangliche Ergebnis kaum unterschiedlich zu Interpretationen von Werken des 18. Jahrhunderts und zeigte charakteristische Stilmittel, die sich inzwischen als Charakteristikum und Klangsignum historisch informierter Aufführungspraxis herausgebildet hatten – obgleich die Vortragsästhetik des mittleren 19. Jahrhunderts und die Wandlung aufführungspraktischer Gepflogenheiten ganz andere Interpretationsansätze nahelegen würde.

Am Beispiel der Sinfonien von Robert Schumann untersucht Tobias Pfleger, welche historischen Aufführungspraktiken in den Interpretationen historisch informierter Aufführungspraxis umgesetzt werden. Zu diesem Zweck bietet er einen Überblick der historischen Quellen und stellt, geordnet nach einzelnen Interpretationsparametern wie Vibrato, Portamento, Tempo, aber auch Orchestergrösse und -aufstellung, ausgehend von unterschiedlichen Quellen der Zeit einen Möglichkeitsrahmen interpretatorischer Gestaltung vor. In einem zweiten Schritt wird die Realisierung aufführungspraktischer Elemente in Tonträgeraufnahmen von Interpreten, die sich dem Bereich historisch informierter Aufführungspraxis zuordnen lassen, überprüft.

Bild: John Eliot Gardiner dirigiert – wie nahe kommt er dabei dem Klangideal der Romantik?

Dissertation abgeschlossen

Tobias Pfleger schloss seine Dissertation 2014 an der Hochschule für Musik Karlsruhe ab.

Seine Untersuchung zeigt, dass von den jeweiligen Interpreten ähnliche Schwerpunkte bei der Umsetzung historischer Aufführungspraktiken gesetzt werden, wobei vor allem Aspekte wie Orchestergrösse an historischen Vorbildern orientiert sind. Elemente der Spieltechnik weisen dagegen bis auf das zum Etikett historisch informierter Aufführungspraxis stilisierte nahezu vibratolose Streicherspiel grosse Gemeinsamkeiten mit etablierten Gestaltungsweisen historisch informierter Aufführungspraxis auf, sind also nicht an typischen Spielweisen und Interpretationsidealen des mittleren 19. Jahrhunderts ausgerichtet. Nicht realisiert werden in den untersuchten Schumann-Interpretationen vor allem Ausdrucksmittel, die zu Schumanns Zeit als unabdingbare Voraussetzung eines expressiven Vortrags galten. Dies ist, so die These des Autors, vor allem auf das Ideal (bzw. Ideologem) historisch informierter Aufführungspraxis zurückzuführen, die über Jahrzehnte angelagerte »Patina« der Interpretationsgeschichte abzutragen. Ein historisch informierter Zugang zu sinfonischer Musik des 19. Jahrhunderts, der das Vortragsideal der Zeit einzulösen suchte, würde jedoch das Wiederaufgreifen vergessener oder in Verruf geratener Ausdrucksmittel erfordern.

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